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      Normal oder krank? 
      Anders sein in Gemeinschaft  | 
    Während
      der Weihnachtsfeiertage hatte ich Fotoalben durchblättert und alte
      Filmaufnahmen gesichtet. Ich wollte mir ein eigenes, gewissermaßen
      historisches Bild verschaffen, ob ich als Kind wirklich so unruhig war,
      wie man allgemein von mir erzählte. Die Aufnahmen zeigten mich allerdings
      meist vielmehr traurig als unruhig, was mich überraschte und erschreckte.
      [...] Spätere Ablichtungen, die mich im Alter von fünf bis zehn Jahren
      zeigen, lassen hingegen ein Kind erkennen, das die meiste Zeit Faxen
      machte. Ein Bild zum ersten Kindergartentag meines kleinen, rund
      dreieinhalb Jahre jüngeren Bruders, zeigt mich mit verdrehten Augen und
      schelmischem Grinsen, während mein Bruder mit weinerlich-wütendem
      Gesicht zu mir aufschaut. Offensichtlich hatte ich ihn gerade geärgert,
      wie ich es später aus Langeweile und Wut noch oft tun sollte.
       Joshua
      Cyriac Anders (1998) S.4f.  | 
   
 
  
     
      Eine Unruhe des Geistes ...
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    | Rund 180 Jahre ist es her, dass der Architekt Philipp
      Jacob Hoffmann einen längeren Brief an seinen Sohn Heinrich verfasste.
      Der 14-jährige Heinrich verbringt gerade seine Sommerferien, als der
      abwesende Vater, vom Müßiggang des Jungen in Kenntnis gesetzt, ihm
      folgende mahnenden Zeilen zukommen lässt: "Da der Heinrich – wie
      eine nunmehr 14tägige Erfahrung zu meiner großen Betrübnis gelehrt hat
      – in ungeregelter Tätigkeit und leichtsinniger
      Vergesslichkeit fortlebt, überhaupt nicht im Stande ist, seine
      Betriebsamkeit nach eigenem freiem Willen auf eine vernünftige und zweckmäßige
      Weise zu regeln, und im Verfolg dieser Regellosigkeit, die Schande für
      seine Eltern, der größte Nachteil für ihn selbst zu gewärtigen
      ist, so will ihm hiermit nochmals die Pflicht ans Herz legen und ihn
      auffordern: zur Ordnung, zum geregelten Fleiß, zur vernünftigen
      Einteilung seiner Zeit zurückzukehren, damit er ein nützliches Mitglied
      der bürgerlichen Gesellschaft werde, und seine Eltern wenigstens zu der
      Erwartung berechtigt sind, dass er nicht untergehe in der Flut des alltäglichen
      gemeinen Lebens." [Zitiert nach Krause, K.H. & Krause, J. (1998).
      Der Autor des »Zappel-Philipp« -
      selbst ein Betroffener? in: Nervenheilkunde 17, S.319]
       Heinrich
      Hoffmann (geb. 1809 in Frankfurt am Main) wurde später weltberühmt. Bis
      zu den Zeiten von Harry Potter* war sein Kinderbuch Lustige Geschichten
      und drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren (1845), besser
      bekannt unter dem Titel der dritten Auflage von 1846 Struwwelpeter,
      mit über 25 Millionen Exemplaren das meistverkaufte Kinderbuch der Welt.
      Hoffmann hatte es zunächst für seinen Sohn Carl geschrieben, für den er
      vergeblich ein Weihnachtsgeschenk gesucht hatte. Schon früher hatte der
      Arzt, der 1851 Direktor der Psychiatrie in Frankfurt wurde,
      Bildergeschichten gezeichnet. Er benutzte sie, um den kleinen Patienten in
      seiner Praxis ohne viele Worte die Wichtigkeit von angepasstem Verhalten zu
      illustrieren. Die Kinderbücher seiner Zeit waren ihm alle  "zu
      aufklärerisch-rational, erzwungen-naiv, unkindlich, unwahr,
      verkünstelt".** Freunde sahen das Geschenk im Haus der Familie
      Hoffmann und überredeten den Autor, es doch drucken zu lassen. Heinrich
      Hoffmann stimmte zu. Allerdings traute er sich erst zur fünften Auflage,
      als das Buch bereits einige Bekanntheit erlangt hatte, mit seinem eigenen
      Namen zur Autorschaft zu stehen. Bis zu seinem Tod 1894 erreichte der
      Struwwelpeter bereits mehr als 100 Auflagen. [* Gesamtauflage Oktober 2001: 120
      Millionen; ** Zitiert nach Kindlers Neues Literatur Lexikon Bd. 7
      (1988) S.970] 
      Die
      Geschichte vom Zappelphilipp, der bei Tisch nicht still sitzen
      konnte, ist eine der Bildergeschichten des Struwwelpeter. Hoffmann
      ist von manchem Pädagogen des 20. Jahrhunderts postum vorgeworfen
      worden, er habe eine gewalttätige Erziehung durch Angst propagiert. Aber
      die kurzen Schüttelreim-Gedichte mit den lustigen Bildern sind selbst
      für kleine Kinder durchschaubar. Papa ist nicht böse auf Philipp,
      doch ums Essen ist es schade; der Friedrich quält Hunde und wird
      ebenso wie der Jäger, dem der Hase während des Mittagschlafes sein
      Gewehr klaut, von den Tieren bestraft; Paulinchen zündelt und verbrennt -
      von den klügeren Katzen betrauert - bis auf ihre hübschen Schuhe; die
      drei Jungen, die den Mohren ärgern, werden mittels Tinte selbst zu
      kleinen Negerlein gemacht; Konrad ist schon so groß, dass die Mutter ihn
      alleine im Haus zurücklässt, aber er lutscht noch immer am Daumen; der
      dicke Suppenkasper magert binnen fünf Tagen ratzfatz zu einem Strich in
      der Landschaft ab, weil er grad zum Trotz keine Suppe essen will; Hans
      Guck-in-die-Luft wird von den Fischen ausgelacht, weil er in den Bach
      gelaufen ist; Robert will unbedingt bei schlechtem Wetter ins Freie und da
      weht es ihn halt mit samt dem Schirm davon; ja und der Struwwelpeter, der
      hat es mit einem ganzen Jahr ohne Haare- und Nägelschneiden wirklich ein
      bisschen übertrieben, oder?! Alles ganz alltägliche Szenen in
      Familien mit Kindern. Szenen, in welchen sich auch die Kinder
      wiedererkennen - mit ihrem bisweilen falschen Verhalten. Und obwohl
      Hoffmann das Bilderbuch sicher nicht ohne Grund für den Sohn gemalt hat,
      war der kleine Carl doch zumindest so brav, dass er das hübsche Büchlein
      verdient hatte. So steht es immerhin im Vorwort. 
         | 
     
      Szene aus der Geschichte vom Zappelphilipp.  
      Über die Jahre entfernten sich die Illustrationen mehr
      und mehr von den ersten Zeichnungen Hoffmanns. Die meisten neueren Drucke
      nach 1945 stützen sich auf Nachzeichnungen von Fritz Kredel, der 1938 die
      im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum aufbewahrten Originale
      kopierte.  | 
   
  
     
       
      Zur
      Kinderzeit jedoch fürchtete er, ich würde mein Lebtag lang ein Außenseiter
      bleiben müssen, würde ich nicht lernen, mich in die Ordnung des Alltags
      einzufügen. Er habe mir diese Ordnung nicht erklärt, sondern
      aufgezwungen. 
      Joshua
      Cyriac 
      Anders (1998) S.5 
     | 
    
      Der normale kranke Zappelphilipp
     | 
   
  
    | Die Hyperkinetische Störung (zum Namen
      der Störung vgl. den Link auf die Seite HKS/ADHD),
      wie die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung in Deutschland -
      und fast überall auf der Welt - korrekt heißt, ist eine Verhaltensstörung.
      Wie auch immer man über die Ursachen der
      Störung denken mag: das impulsive, unruhige und unaufmerksame Gebaren der
      betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen fällt auf. Ihr Verhalten
      entspricht nicht den Anforderungen der Gemeinschaft, in der sie leben. Und
      das gilt nicht nur für die an Schreibtisch und Maschine gebundenen
      Menschen der Industriegesellschaften, sondern auch für das Leben in
      weniger technisierten asiatischen oder afrikanischen Kulturen. Auch in
      diesen Gemeinschaften beobachten wir einen natürlichen Anteil an rund 5
      Prozent der Menschen, die ihr Verhalten nicht in der von den Mitmenschen
      gewohnten und eingeforderten Weise steuern können, was ihnen erhebliche
      Schwierigkeiten bei der Integration in den gesellschaftlichen Alltag
      bereitet. (1 - Literaturangaben nach Nummern
      sortiert am Ende dieser Seite) Hyperaktivität ist keine Krankheit. Sie ist kein Leiden
      an einem Zustand, der durch die "rechte" Behandlung geheilt
      werden könnte - wenn man nur wüsste, was die richtige  Therapie ist.
      Hyperaktivität ist allerdings auch nicht gesund. Wir wissen heute, welche
      Gefahren hyperkinetischen Kindern in ihrer psychischen und sozialen
      Entwicklung drohen, wenn es nicht gelingt, sie vor den Folgen ihres
      Verhaltens zu schützen. (2) Verschiedentlich wurde der Versuch
      unternommen, die Auffälligkeiten der Hyperkinetischen Störung als
      historische, d.h. als evolutionäre
      Normalität darzustellen. (3) Es ist aber leicht einzusehen, dass die
      ungenügende Verhaltenssteuerung von hyperkinetischen Menschen in keiner
      denkbaren Gesellschaft vorteilhaft ist. Launisch, unruhig und abgelenkt zu
      sein ist normal - fast alle Menschen zeigen solches Verhalten von Zeit zu
      Zeit. Impulsiv, hyperaktiv
      und dauerhaft unaufmerksam zu sein ist
      hingegen eine Behinderung, die das Handeln eines Menschen häufig
      unberechenbar und ziellos erscheinen lässt - und nicht
      selten ist es dies v.a. bei stark betroffenen Kindern auch. 
         | 
   
  
    | Statistischen Schätzungen zufolge, die auf
      Grundlage der Daten von repräsentativen Untersuchungen anhand der
      internationalen Diagnosekriterien (ICD-10) der
      Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgenommen wurden, leiden im
      deutschsprachigen Raum rund 5 Prozent der Kinder an einer Hyperkinetischen
      Störung. (1/4) Je nach Auswahl der Untersuchungsgruppe, des sozialen Milieus
      (ob arm oder reich) oder des Wohnortes (ob Stadt oder Land) schwanken
      diese Angaben zwischen 3 und 10 Prozent. (5) Das heißt aber nicht, dass
      die genannten Faktoren die Störung hervorbringen können, sondern nur,
      dass sie unter bestimmten Bedingungen häufiger beobachtet wird.
      Sehr wahrscheinlich ist das auch der Grund für die in den letzten Jahren
      deutlich steigenden Diagnosezahlen und v.a. medikamentösen (6) Therapien. Von der Verhaltensstörung sind dreimal
      mehr Jungen als Mädchen betroffen. (7) Auch hier handelt es sich -
      trotz erheblichen Einflusses der Umwelt auf die Entwicklung des Gehirns - um die Folge neurobiologischer Unterschiede und nicht um
      einen prägenden Einfluss rollenspezifischer Erziehung. (8) Ungefähr die
      Hälfte der stark betroffenen Kinder zeigt noch im Erwachsenenalter so
      viele Symptome der Störung, dass die Diagnose gerechtfertigt ist bzw.
      aufrecht erhalten werden muss. Viele Erwachsene, die zu Zeiten aufwuchsen,
      als man zwar das auffällige Verhalten beobachtete, jedoch nicht als ein psychiatrisches Störungsbild begriff und behandelte, haben inzwischen
      einen Weg gefunden, mit ihren Eigentümlichkeiten
      im Wahrnehmen und Handeln zu leben. Obwohl mancher auch stark Betroffene
      sein Leben ohne Diagnose und spezifische Therapie meistert, ist damit
      nicht gesagt, dass er frei von den Folgen der Störung ist. (4)
       » Diese Krankheit gibt es doch gar
      nicht! « 
      Russell A. Barkley, der amerikanische Neuropsychiater und international
      führende Experte für die Hyperkinetische Störung, nennt in seinem Buch Taking
      Charge of ADHD (9) vier Legenden, die immer wieder im Zusammenhang
      mit der Störung genannt werden: 1) Es gibt diese Störung nicht, weil
      man sie nicht am Gehirn messen kann; 2) Wenn es sie gäbe, würde man
      einen Labortest durchführen können, um sie zu diagnostizieren; 3) Bei
      der Störung handelt es sich um eine amerikanische Erfindungen, da sie nur
      in den USA beobachtet wird; 4) Die Störung wird weithin
      überdiagnostiziert, da die Anzahl der Diagnosen und Therapien in den
      letzten Jahren rasant gestiegen ist. Barkley kann solche Einwände gegen
      die Hyperkinetische Störung durch Fakten und Vergleiche leicht
      entkräften. Hinter diesen Vorbehalten stehen jedoch mehr oder weniger offene
      Vorwürfe an die Adresse der Betroffenen und ihre Umwelt: 1) Es gibt
      andere, im Dunkeln liegende Gründe, warum die "unsichtbare"
      Störung diagnostiziert wird; 2) Eine "echte" Krankheit kann man
      immer exakt mit Apparaten sichtbar machen und vermessen; 3) Dubiose Fachleute und Firmen aus Übersee machen die
      Opfer einer krankmachenden Gesellschaft zu kranken Tätern an der
      Gemeinschaft; 4) Die Zahlen beweisen das Interesse der Umwelt, ungewollte
      Kinder ruhigzustellen, und nicht die wachsende Hilfe für
      verhaltensaufällige Menschen. 
         | 
     
      Mein
      Vater erzählte, dass ich ein ausgesprochen wissbegieriges und andauernd
      plapperndes Kind gewesen sei. Wäre man mit mir spazieren gegangen, so sei
      ich bei jedem kleinen Gegenstand stehen geblieben. Es sei unmöglich
      gewesen, mit mir nur kurze Strecken zügig voranzukommen. 
      Joshua
      Cyriac 
      Anders (1998) S.5 
     | 
   
  
    | Gerade die Nähe der Symptomatik
      zur Normalität, der fließende Übergang des Alltäglichen ins Besondere,
      machen es so schwierig, die Fakten zur Hyperkinetischen Störung
      begreifbar zu machen. Zwar verfügt die Wissenschaft heute über ein
      brauchbares Modell zur neurobiologischen Grundlage der Störung, ja sie
      kann ihre  Ursachen sogar in Teilen sichtbar machen. Diagnoseinstrumente
      für den Alltag sind die wissenschaftlichen Verfahren jedoch nicht, da sie
      meist aufwendig und teuer sind. Andererseits bedarf es auch keines
      Beweises auf der Ebene des Hirnstoffwechsels, wenn die Probleme, die ein
      hyperaktives Kind hat, so offensichtlich sind: andauernde Konflikte in
      Familie und Freundeskreis, Probleme mit Aufmerksamkeit und Disziplin in
      der Schule, Verweise aus Gruppen und Vereinen, Anpassungsschwierigkeiten
      in Ausbildung und Arbeit. Natürlich finden sich für alle genannten
      Problembereiche auch andere Gründe der Auffälligkeit jenseits einer
      Hyperkinetischen Störung. Wenn aber das Syndrom, die Häufung der
      Symptome, bei vielen Menschen unter einem Gesichtspunkt verstanden
      und erfolgreich behandelt werden kann, - warum sollten wir an zehn
      unbestimmte "dunkle" Gründe aus den Tiefen unserer Gemeinschaft
      glauben?!
       Die Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger hat einmal in einer Rede
      aus Buchkritiken über Kinderbücher zitiert. Da schrieb der Kritiker zu
      einem bestimmten Kinderbuch: "[...] fand dieses Buch weder bei meinem
      Sohn noch bei anderen Kindern, denen ich es zu lesen gab, viel
      Anklang." Nöstlinger antwortete darauf, man möge sich doch einmal
      vorstellen, jemand würde über Martin Walsers Werk Brandung
      schreiben, es sei nicht zu empfehlen, weil es weder Otto, dem Freund des
      Kritikers, noch der Schwiegermutter gefallen habe... (*) Kaum sinnvoller
      ist häufig die Kritik an der Hyperkinetischen Störung oder bestimmten
      Behandlungsformen: Wir waren damals auch unruhig und haben keine
      Therapie gebraucht! Das kommt vom vielen Fernsehen, das sieht man am Sohn
      unserer Nachbarn! Bei Philipp hat die Diät geholfen, es klappt doch auch
      ohne Medikamente! Leider geht es vielen in der öffentlichen
      Diskussion über die Störung nicht um Abhilfe gegen die Auffälligkeit,
      sondern schlicht um die Rechtfertigung der eigenen Person. Ob sie
      die Störung anerkennen oder nicht, hängt davon ab, ob daraus ein
      persönlicher Gewinn resultiert: eine Entlastung von der eigenen
      Verantwortung, eine Lizenz zum Fehlverhalten, ein Grund zur Ausgrenzung
      unliebsamer Mitmenschen, ein reißerisches Thema für die Politik. Die Normalität
      zu fordern und zu fördern kann das Ziel ehrlichen Bemühens um die
      Anpassung von Menschen an ihre Gemeinschaft sein. Auffälliges Verhalten
      als normal darzustellen und der Gesellschaft die Störung als ihre
      unausweichliche Wirklichkeit aufzuzwingen wird hingegen leicht zum
      Rückzug aus der eigenen Verantwortung. [* Zitiert nach Gelberg, H.-J.
      (1986). Nussknacker. Über Kinderbücher und Autoren. Weinheim:
      Beltz, S.27] 
      Die Hyperkinetische Störung ist kein Geschäft! Weder die
      Betroffenen noch ihre Familien profitieren von der Auffälligkeit;
      gleichermaßen würde sich niemand ein Bein amputieren lassen, nur um in
      den Genuss eines Behindertenausweises zu kommen. Sie ist aber auch kein
      übermäßig gutes Geschäft für das Gesundheitswesen samt der
      Pharmafirmen. Bei geschätzt 700kg verbrauchtem Methylphenidat (Wirkstoff
      der am häufigsten verschriebenen Medikamente Ritalin /
      Medikinet) im Jahr 2001 ergeben sich selbst unter Annahme des teuersten
      Produktes (Ritalin) nicht mehr als 35 Mio. Euro Umsatz in den deutschen
      Apotheken. 1999 rangierte Methylphenidat an 213. Stelle der
      meistverschriebenen Medikamente in Deutschland. (10) Im Vergleich dazu
      erreichen einzelne Präparate zur Behandlung von Folgeschäden einer
      ungesunden und übermäßigen Ernährung Milliardenumsätze.  Sowohl
      die Befürworter als auch die Kritiker der medikamentösen Behandlung der
      Hyperkinetischen Störung sind aber einer Meinung, dass es mit der
      Psychotherapie hyperaktiver Kinder noch viel armseliger ausschaut. Umgekehrt
      wurden die gesellschaftlichen Kosten unbehandelter Verhaltensstörungen
      (Schul-, Jugendhilfe- und Klinikkosten, mangelnde Berufsausbildung und
      Arbeitslosigkeit, Unfälle durch Risikoverhalten, Justizkosten bei
      Delinquenz) bislang noch nie umfassend berechnet. Es gibt also viel
      weniger heimliche oder gar unheimliche Profiteure einer vermeintlich
      erfundenen Krankheit als vielmehr Nutznießer einer anhaltenden
      politischen Diskussion auf Kosten von Betroffenen - Menschen, deren
      angeborene Kontrolle des eigenen Verhaltens für diese Gesellschaft nicht
      (mehr) genügt. 
         | 
     
      Natürlich
      erinnert man sich nicht mehr an sich, wie man wirklich war, sondern wie
      man sich rückblickend sieht, wie man sich noch vor Augen hat. [...]
      Deshalb ist das Kind, an das ich mich erinnere, gewesen zu sein, nicht das
      Kind, das ich für andere tatsächlich war. Es ist aber das Kind, das erklären
      kann, warum es so war, wie es sich und den anderen in je eigener Weise
      erschien. Es ist das Kind, das getrieben ist, und nicht nur das unruhige
      Kind; es ist das Kind, das eine zumindest umschreibbare Angst hat, und
      nicht einfach ängstlich oder feige ist; es ist das Kind, das verzweifelt
      ist, und nicht das Kind, dessen Verzweiflung wie Trotz, dessen Temperament
      in der konkreten Situation wie Vorsatz, dessen Leidenschaft wie böse
      Absicht sich offenbart. 
      Joshua
      Cyriac 
      Anders (1998) S.6  | 
   
  
     | 
    
      Anders sein in der Gemeinschaft
     | 
   
  
     
      Man
      kann den Tod meiner Mutter wohl kaum ein Glück nennen. Er hat mir aber
      – zumindest vorübergehend – die Lizenz für ein Verhalten gewährt,
      von dem man nicht sagen kann, ob es unter der Betreuung meiner leiblichen
      Mutter anders oder nicht eben gleich gewesen wäre. Dass meine Stiefmutter
      mich nicht akzeptieren konnte, wie ich war, und dass sie das andere, das
      ich sein sollte, an jedem beliebigen Kind aufzeigen konnte, jedoch nicht
      im kleinsten Teil meines Wesens sah, hat mir in meiner Kindheit sehr weh
      getan. Ihre Ablehnung hat mich allerdings gelehrt, dass die Zuneigung der
      anderen meist nicht mehr als ein Bruchteil ihrer oft hoffnungslosen
      Selbstliebe ist, der Liebe zu den Dingen, die für sie wertvoll sind. Man
      kann nur sich, nicht aber die Selbstliebe der anderen ändern. 
      Die
      Schulzeit war eine Leidenszeit, weil sie zugleich eine Zeit des Triumphes
      war, der die eigene Macht in der ihr günstigen Situation spüren ließ:
      Ich litt an den Konsequenzen meines Verhaltens, doch zwang mich schließlich
      nichts und niemand, dieses Verhalten zu ändern. Die unumgängliche
      Verwundbarkeit aufgrund meines ungebärdigen Wesens zeigte mir, dass man
      seine Begabungen pflegen muss, um nicht an seinen Fehlern zugrunde zu
      gehen. 
      Joshua
      Cyriac 
      Anders (1998) S.3  | 
    Heute mehren sich die empirischen Befunde, dass
      es sich bei der Hyperkinetischen Störung um eine sowohl verzögerte als
      auch abweichende Entwicklung handelt. Darauf weisen nicht nur
      Veränderungen in sogenannten Labormesswerten hin (u.a. EEG), die für
      eine verzögerte Ausbildung von Leitungsbahnen sensorischer Bereiche des
      Nervensystems sprechen. (11) Auch der mutmaßlich eigentliche Kern der
      Störung, eine Anomalie im Hirnstoffwechsel, ist durch die Umwelt
      beeinflussbar und damit einer Entwicklung unterworfen. (12) Das Verhalten
      hyperaktiver Kinder, Jugendlicher und Erwachsener ist durch ein Kontinuum
      an auffälligen Verhaltensweisen gekennzeichnet, das an das
      "normale" Verhalten nicht von der Störung betroffener Personen
      anschließt. Daher macht es auch keinen Sinn, die Diagnose der Störung
      von ganz bestimmten Verhaltensweisen abhängig zu machen, die nur bei
      hyperkinetischen Menschen auftreten. Die sozialen Rahmenbedingungen tragen
      entscheidend dazu bei, inwieweit die physiologisch bedingte verringerte
      Fähigkeit zur Selbstregulation im alltäglichen Verhalten zum Problem
      wird.
       Hyperaktive Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind anders. Das Andere
      ihres Verhaltens wird jedoch v.a. in Gemeinschaften sichtbar, wo Unruhe
      und Impulsivität einerseits die Anpassung, andererseits die Akzeptanz der
      Betroffenen behindern. Es ist v.a. die Ausgrenzung, die dem
      auffälligen Verhalten folgt, welche eine altersgerechte normale
      Entwicklung hyperaktiver Kinder weiter beeinträchtigt. Damit verstärkt
      sie einen gefährlichen Zirkel von problematischen Verhaltensweisen und
      ungünstigen Reaktionen der Umwelt, der eine physiologische Besonderheit
      zu einem zunehmenden sozialen Problem macht. Die erfolgreiche Therapie der
      Hyperkinetischen Störung darf sich deshalb nicht allein auf die
      Behandlung der Betroffenen selbst beschränken, sondern muss auch auf
      Veränderungen in der prägenden sozialen Umwelt der Kinder, d.h.
      insbesondere in Familie und Schule abzielen.  
      Anders sein bzw. als anders wahrgenommen zu werden sind
      unterschiedliche Perspektiven. Vor allem für hyperaktive Kinder und
      Jugendliche, letztlich aber für Menschen jeden Alters und jeder
      Auffälligkeit, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie in
      Gemeinschaften trotz ihres Anders-Seins für das "Normale" an
      ihnen anerkannt werden. Für Menschen, die in Gesellschaften leben,
      kann es nie eine sinnvolle Alternative zur hinreichenden Anpassung an die
      Anforderungen und Regeln der jeweiligen Gemeinschaft geben. Selbstachtung
      und Zufriedenheit sind jenseits der Achtung durch die Mitmenschen und die
      stabile Einbindung in eine Gemeinschaft für die große Mehrheit der
      Menschen und ihre Lebensentwürfe nicht denkbar.  
      Aus diesem Grund bleibt die Hyperkinetische Störung eine schwere und
      angesichts der Risiken abweichender Entwicklung behandlungsbedürftige
      Verhaltensstörung, solange das in Frage stehende Verhalten nicht von
      allgemeinem Nutzen für eine Gemeinschaft ist. Das aber waren
      Impulsivität, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizite weder in der
      Frühzeit menschlicher Kulturen noch zu Zeiten von Hoffmanns Zappelphilipp
      oder gar heute. Auch in Zukunft wird es wohl keinen tragfähigen und
      überdauernden Zusammenschluss von Menschen geben, die gerade über die
      individuellen Voraussetzungen einer sozialen Bindung nicht in
      ausreichendem Maße verfügen und welche die Anpassung des einzelnen nicht
      wechselseitig einfordern. Desto wichtiger ist es, angemessenes Verhalten
      dann zu fördern, wenn der Gewinn durch das Wohlwollen der Umwelt die
      Kosten der Anpassung noch übersteigt: während der Entwicklung im Kindes-
      und Jugendalter. Und entgegen den verlockenden Parolen mancher
      Wissenschaftler und Pädagogen hat niemand einen größeren Einfluss auf
      diese Entwicklung als die Eltern. (13) Obwohl Erziehung insbesondere bei
      hyperaktiven Kindern ein mühsames Unterfangen ist ... 
         | 
   
  
    | 
       
         | 
    Unter der Rubrik Hyperaktivität
      finden Sie auf diesen Seiten Informationen zu | 
   
  
     | 
    Begriff und Namen der Störung | 
     | 
   
  
     | 
    Ursachen der Hyperkinetischen
      Störung | 
     | 
   
  
     | 
    Symptome der Störung | 
     | 
   
  
     | 
    Diagnose der Störung | 
     | 
   
  
     | 
    Therapieformen | 
     | 
   
  
     | 
     | 
     | 
   
  
     | 
     
       Verweise auf Fachliteratur 
     | 
     | 
   
  
    | 
       (1)  | 
    Barkley, R.A.
      (2000). Taking Charge of ADHD. New York: Guilford Press, S.22f. 
      Steinhausen, H.-C. (2000). Hyperkinetische Störungen bei Kindern,
      Jugendlichen und Erwachsenen. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer, S.18 
      Barkley, R.A. (1998). The Prevalence of ADHD: Is ist just a U.S.
      Disorder? In: ADHD Report 6/2, S.1-6 | 
   
  
    | 
      (2) | 
    Lie, N. (1992). Follow-ups of children with attention deficit
      hyperactivity disorder (ADHD). In: Acta Psychiatrica Scandinavica 85,
      Sup. 386 
      Mannuzza, S. et al. (1993). Adult Outcome of hyperactive Boys.
      Educational Achievement, Occupational Rank, and Psychiatric Status.
      In: Archive of Genetic Psychiatry  50, S.565-576 
      Mannuzza, S. et al. (1997). Educational and Occupational Outcome of
      hyperactive Boys Grown Up.  In: Journal of the American Academy of
      Child and Adolescent Psychiatry 36/9, S.1222-1227 | 
   
  
    | 
      (3) | 
    
      Hartmann, T. (1997). ADD - Eine andere Art, die Welt zu sehen. 2.
      Aufl. Lübeck: Schmidt-Römhild 
      Jensen, P.S. et al. (1997). Evolution and Revolution in Chuld
      Psychiatry: ADHD as a Disorder of Adaptation. In: Journal of the
      American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 36/12, S.1672-1679 | 
   
  
    | 
      (4) | 
    Wender, P.H. (1997). Attention Deficit Disorder in
      Adults. New York:
      Oxford University Press, S.47ff. | 
   
  
    | 
      (5) | 
    
      Vgl. Daten zur Kurpfalzerhebung in der Zeitschrift für Klinische
      Psychologie und Psychotherapie 4/2000 | 
   
  
    | 
      (6) | 
    ur für diese Form der Therapie verfügen wir aufgrund der staatlichen
      Kontrolle von bestimmten Substanzen über halbwegs zuverlässige Daten | 
   
  
    | 
      (7) | 
    
      Brühl, B. et al. (2000). Der Fremdbeurteilungsbogen für
      hyperkinetische Störungen (FBB-HKS) – Prävalenz hyperkinetischer Störungen
      im Elternurteil und psychometrische Kriterien. In: Kindheit und
      Entwicklung 9, S.116-126 | 
   
  
    | 
      (8) | 
    
      Barkley, R.A. (1997). ADHD and the nature oft self-control. New
      York: Guilford Press, S.37ff. | 
   
  
    | 
      (9) | 
    
      Vgl. Barkley unter (1) S.21ff. | 
   
  
    | 
      (10) | 
    
      Schubert, I. et al. (2001). Methylphenidat bei hyperkinetischen
      Störungen: Verordnungen in den 90er Jahren. In: Deutsches
      Ärzteblatt 98/9, S.A-541ff. 
      Statistiken des Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel
      und Gesundheitsprodukte (BfArM) | 
   
  
    | 
      (11) | 
    
      Moll, G.H; Rothenberger, A. (2001). Neurobiologische Grundlagen. Ein
      pathophysiologisches Erklärungsmodell der ADHD. In: Kinderärztliche
      Praxis. Sonderheft "Unaufmerksam und hyperaktiv", S.9-15 | 
   
  
    | 
      (12) | 
    
      Moll, G.H. et al. (2002). Entwicklungspsychopharmakologie in der
      Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Psychopharmakotherapie 9/1,
      S.19-24 | 
   
  
    | 
      (13) | 
    
      Harris, J.R. (2000). Ist Erziehung sinnlos? Die Ohnmacht der Eltern.
      Hamburg: Rowohlt. Eine den populärwissenschaftlichen Darstellungen von
      Harris entgegenstehende Zusammenfassung bisheriger empirischer Befunde bei 
      Amelang, M. (2000). Anlage- und Umweltfaktoren bei Intelligenz- und
      Persönlichkeitsmerkmalen. In: Amelang, M. (Hrsg.) Enzyklopädie
      der Psychologie. Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung.
      Bd.4 Determinanten individueller Unterschiede. Göttingen: Hogrefe,
      S.49-128 | 
   
  
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